Vincent
Bevor ich letztes Jahr zum ersten Mal das Van Gogh Museum in Amsterdam besucht habe, dachte ich mir immer 'Ah, Van Gogh ist sooo overrated, alle stürzen sich auf ihn, was kann daran schon sein!' Natürlich, der Touristenansturm und die Merchandising-Maschinerie tragen dazu bei, dass man von dem Maler eher abgestossen als angezogen wird. Vielleicht auch deshalb habe ich dieses Museum nie ausgesucht, sondern immer nur einzelne Gemälde oder Ausstellungen ausserhalb gesehen. Auch bin ich nicht 'der Van Gogh Typ', dachte ich mir immer (was auch immer das heissen mag), ich bevorzuge eher Rembrandt und Bosch. Doch letzes Jahr hat mich der Zufall doch in das erwähnte Museum geführt. Es hat schrecklich geregnet glaub' ich und es war einer dieser Tage, wenn die Museen bis spät abends offen haben. Also habe ich - eher aus Neugier und Langweile - ein Onlineticket gelöst und bin dann ins Museum.
Gedrängt mit hunderten (!) anderen, zwischen schreienden Kindern und streitenden Paaren, fragte ich mich, was ich da tue, wozu das Ganze. Im Regen und Wind eine gute Stunde lang draussen zu warten. Noch schlimmer wurde es drinnen, Gedränge und Gerammel grösser als im Louvre, lauter als auf der Karlsbrücke und beängstigender als auf dem Eiffelturm. Ein Jahrmarkt der Kunst (oder dessen, was davon übriggeblieben), shop until you drop: Regenschirme, Kondome, Tassen und Plüschtiere, kurzum all you can need. Und wieder schreiende Kinder und streitende Paare... Doch ich gebe nicht auf, nicht jetzt, wenn ich schon drinnen bin und so viel erlittenn habe. Ich nehme also die letze Hürde in Angriff, steige auf die glaserne Rolltreppe und fahre hinauf ins Paradies. Als erstes (wir sind ja in Holland zum Glück) kaufe ich mir ein Bier, trinke es hastig und beruhige meine Nerven.
Jetzt kanns los gehen, mal sehen, welche Wunder mich da erwarten, denke ich mir spöttisch. Und siehe da, die Bilder, die man zuerst im Erdgeschoss zu sehen bekommt, haben wirklich etwas von einem Wunder. Meist sind es Autoporträts, ein schöneres als das andere, alle leuchten (oder ist es die Beleuchtung?) in goldig-türkissen Farbtönen von unglaublicher Tiefe. Ich schaue und schaue und kann nicht genug kriegen, man wird mit einer Wucht von Schönheit und Schmerz, wie man sie sonst nur bei Tolstoi oder Dostojewskij antrifft, konfrontiert. Aus jedem Porträt schaut einen ein Vincent an, alle anders und doch gleich, da sie einen und derselben Menschen darstellen. Ergriffen wie selten kann ich mich kaum von den Bildern lösen und steige langsam weiter hinauf, das Museum hat nämlich drei Stockwerke, alle gefüllt mit Vincents Gemälden.... Nach drei Stunden habe ich das Gefühl ein anderer Mensch zu sein als vorher, was man ja schliesslich auch ist, doch nimmt man es selten so deutlich wahr. Seither denke ich oft an Vincent, daran, wie es möglich ist, dass ein Mensch, der so sehr gelitten hat, solch Schönheit zu hervorbringen vermochte.
Es ist also kein Zufall, dass ich mein erstes bewusst komponiertes Tuch diesem Maler gewidmet habe. Ich weiss nicht, wieviel und ob überhaupt etwas an ihn erinnert, wenn man das Tuch anschaut. Aber vielleicht kann man eine Anspielung an die von ihm verwendeten Farben erkennen. Als Material habe ich handbemalte Wolle gewählt. Man braucht die ‘Farben’ gar nicht zu mischen, wenn man mit ihnen arbeitet, da sie schon ihre eigenen Kombinationen enthalten. Ich tue es natürlich trotzdem, dadurch erzielt man noch feinere Schattierungen und Übergänge, denn sie passen alle wunderbar zusammen. Bei diesem Tuch habe ich die vertikalen und horizontalen Fäden in derselben 'Farbe' gewählt, wodurch beim Weben sanfte Muster in blau entstanden sind. Die Ränder habe ich gehäkelt, was zwar schrecklich aufwendig war (es dauerte fast 8 Stunden), aber es lohnt sich, denn dadurch bekommt das Tuch zusätzliche Struktur und etwas Altmodisches. Auch kann man es ohne Sorge tragen, da die Ränder gut versteckt und verstärkt sind.
Nachher habe ich noch ein paar Tücher weitere gewoben, es handelt sich eher um einen kleinen Experiment auf dem Webstuhl, momentan kommen keine neuen dazu.