Anatomies
Das Eingreifen ins textile Gewebe hat für mich stets etwas Anatomisches (gr. anatomía aufschneiden, sezieren). Einerseits wird die Struktur des Stoffes verändert, modifiziert oder hervorgehoben, anderseits bringt die stickende Person ihre anatomischen Voraussetzungen, Fertigkeiten und Ideen mit. Das Projekt Anatomies hat es zum Ziel, die technischen, inhaltlichen und anatomischen Verbindungen und Ähnlichkeiten zwischen dem textilen und menschlichen Gewebe zu erforschen. Es stehen diverse handwerklichen Techniken wie Sticken, Stricken, Häkeln, Weben und experimentelle Griffe im Vordergrund. Die Materialien passen sich an diese an oder umgekehrt, etwa indem sich die hölzerne Struktur von Ramie nur bedingt ansticken lässt etc. Die Wechselwirkung zwischen den genannten Techniken und der eigenen Körperlichkein ist ebenfalls vom Interesse: welche Materialien erlauben uns welche Griffe, wie bewegen wir uns, wie atmen wir etc.? Auf diese Weise werden die eigenen Befindlichkeiten erkundet und um neue Erkenntnisse erweitert. Diese wirken sich wiederum auf die textile Arbeit aus oder beeinflussen die kreative Arbeit anderer Mitglieder in der Gruppe. Das Projekt Anatomies versteht sich als eine Art praktisches Lab, wo aus Fäden greifbare Artefakte entstehen und konkrete Fragestellungen zu meinem Dissertationsprojekt erforscht werden.
Die leitenden Motive für dieses Projekt stammen aus der Anatomie (Querschnitt des Gehirns, die Bahnen des Nervensystems, das menschliche Herz, die Innenansicht des Rumpfes oder die menschliche Hand). Die von mir gewählten Körperteile unterscheiden sich in ihrer Beschaffenheit: die weiche Haut, die schützt und bedeckt, die Knochen, deren Festigkeit ein Fundament bildet, die feinen Nervenbahnen, die sich wie ein Netz in unserem Inneren ausbreiten etc.
Und dann ist hier noch die kaum zu übersehende Metaphorik, sowie die visuellen Anlehnungen an Textilien, die sich in den frühen Arbeiten bekannter Anatomen wie Vesalius (1514-64) oder Amusco (1525-88) finden. In Anspielung auf Kleidungsstücke ziehen sich die sezierten Figuren ihre Haut selber vom Körper ab und etnblössen auf diese Art ihr Inneres für die Betrachter. Der holländische Arzt Frederik Ruysch (1638-1731) ging sogar so weit, dass er für seine Präparate (oftmals handelte es sich um anatomische Anomalien oder Raritäten) zarte Stickereien und Spitzen anfertigen lies (bei seiner Tochter) und diese 'ankleidete'. Die von Ruysch arrangierten Skelettgruppen waren meist in skurilen Landschaften aus Knochen, Pflanzen und Textilien istalliert, wo Mini-Bäume ähnlich Blutgefässen und Nervenbahnen durch die Rippen ragen.
Mein Projekt Anatomies lotet die technischen Grenzen und Gemeinsamkeiten zwischen textilem Gewebe und den anatomischen Darstellungen des menschlichen Körpers aus. Die einzelnen Organe und Körperteile sind nicht bloss an der Oberfläche (nach)gestickt, sondern entfalten sich inmitten vom textilen Gewebe, das wiederum auf diese Art deformiert, entfremdet, verformt und verändert wird. Dort, wo diese zwei Anatomien aufeinander treffen, nimmt das textile Gewebe die Form und Struktur des menschlichen Gewebens an, und zwar so, wie meine Hände es hervorbringen. Ergänzend zu handwerklichen Techniken können auch Übungen aus dem Yoga oder Achtsamkeitslehre hinzukommen. Auf diese Weise wird die einzigartige Verbindung des menschlichen und textilen Gewebes hervorgehoben und herausgearbeitet.
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