Eine kleine Wintermeditation
- jb

- 2. Okt.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Nov.

Muster: Briochevron Wrap (Westknits)
Wolle: by Mehlsen+ Mohairwolle
Grösse unterer Rand: 165 Maschen (3 mm Stricknadel)
Beginn: Sonntag 28. September 2025
Freitag, 14.11.2025
"Ich stricke nicht, aber wenn ich jemanden stricken sehe, denke ich, dass diese Person die gleiche innere Ruhe erlangt, wie ich sie bei meinen Expeditionen erlebt habe, obwohl es um sie herum nicht so still ist. Es sieht so aus, als wollten wir alle, oder zumindest sehr viele von uns, gerne zu etwas Ursprünglichem und Authentischem zurückkehren - um Ruhe zu finden. Diese Beschäftigungen bergen etwas Geruhsamens und Beständiges, etwas Meditatives.
All dies ist kein Trend oder eine neue Mode, sondern spiegelt ein tiefes menschliches Bedürfnis wider, davon bin ich überzeugt. Stricken, Bier brauen oder Holz hacken ähneln sich in ihren Aktivitäten. Man setzt sich ein Ziel und führt es durch, nicht sofort, sondern über einen gewissen Zeitraum hinweg. Man benutzt seine Hände oder den Körper und schafft etwas. Indem du dich bewegst, bewegst du dein Gemüt. Ich geniesse es, wenn das Gefühl der Zufriedenheit vom Körper in den Kopf überspringt und nicht umgekehrt. Die Ergebnisse, die man erzielt - Holz, das wärmt, ein Pullover, in den man seine Seele gelegt hat - lassen sich nicht einfach aus der Drucker ziehen. Bei deiner Betätigung kommt buchstäblich etwas Handfestes heraus. Ein Resultat, an dem du dich eine Weile erfreuen kannst. Oder an dem sich andere erfreuen."
Auszüge aus Stille. Ein Wegweiser von Erling Kagge (Weltwanderer, Polarforscher und Bergsteiger)
Donnerstag, 13.11.2025
Limmat. Wie eine lebensspendende Ader schlängelt sich der Fluss durch die Stadt und belebt Pflanzen, Tiere und Menschen gleichermassen. Zum Glück wohne ich unweit, so, dass ich beinahe täglich in seinen Genuss kommen kann. Ob joggen, spazieren, schwimmen oder winterschwimmen... alles wird schöner an der Limmat. Neuerdings habe ich eine neue Kombination ausprobiert. Kurz joggen (2 km oder so), dann auf einer ruhigeren Bank absizten und mit geschlossenen Augen kurz meditieren (5-10 min), nachher wieder joggen oder zügig gehen. Die kurze Meditation war besonders wohltuend, da der Puls und Atem mit jedem Herzschlag zur Ruhe kommen, man kann die Veränderungen - physiologisch, mental, emotional etc. - spüren und mitverfolgen. Das ruhige, fokussierte Sitzen (man könnte auch die eigenen Atemzüge zählen oder ein Mantra wiederholen) tut unglaublich gut. Nach zwei-drei Wiederholungen mit kurzem Joggen etwickelt sich ein Rhythmus, abwechselnd freut man sich auf das eine oder andere. Ich finde die beiden Bewegungsarten ergänzen sich wunderbar, nachher erlebe ich das Joggen intensiver und umgekehrt.
Eine andere Möglichkeit wäre eine Laufmeditation am Fluss. auch hier könnte man entweder die Atemzüge zählen, oder ein Mantra (gelegentlich) im Sinne haben, um so die Aufmerksamkeit zu bündeln und bei einem Inhalt behalten. Geht man hinunter zur Werdinsel ist die Dynamik eine andere, da die Gehrichtung mit dem Fluss übereinstimmt. Als ob alles leichter fliessen würde. Auf dem Weg zurück geht man quasi ggen den Fluss, was aber positiv sein kann: es ist, als ob der Fluss durch einen hindurch fliesst und die Gedanken reinwäscht. Beide Richtungen haben ihren Charme, ebenso beide Ufern. Im Winter ist das Sonnenlicht etwas strenger verteilt: auf der Schattenseite kann es schnell kühl sein.
Hier noch ein Buchtipp für alle Neugierigen:
Zen-Geist Anfänger-Geist (1970, Shunryu Suzuki, ein Zen Mönch)
Die kurzen Abschnitte machen den Text leicht verdaulich. Suzukis philosophische Gedanken haben die Form kurzer Essays, schöner Metaphern oder Gleichnissen, wie wir sie aus der Mythologie kennen. Auch stellt er die wichtigsten Matras vor, die sich gut für eine Meditation eignen. Folgende Zitate und Mantras haben mir sehr gefallen:
"Alles, was wir sehen, verwandelt sich, verliert sein Gleichgewicht. Der Grund, warum alles schön aussieht, ist, weil es aus dem Gleichgewicht ist." (S. 32)
"Die Zeit geht von der Gegenwart zur Vergangenheit." (S. 34)
"Form ist Leerheit und Leerheit ist Form" (S. 44)
Wer sich gerne in die japanische Philosophie vertiefen möchte, hier noch ein Buchtipp:
Nobuo Suzuki: Wabi Sabi. The Wisdom in Imperfection
Montag, 27.10.2025
Was ist der Zweck dieser ganzen Strick-Übung? Vielleicht kennt ihr das berühmte Bild von Vesalius, welches das menschliche Nervensystem zeigt (Ansicht vom Profil). Genau das ist es: wenn ich mich handwerklich (es könnte auch Gartenarbeit, Yoga o.ä. sein) betätige, bin ich mit mir selbst beschäftigt, wortwörtlich webe und flechte ich an meinem Netz, seien es neuronale Verbindungen in meinem Gehirn oder Nerven, Faszien oder auch neue Gedanken, die aufkommen. Nur ich und das von mir ausgewählte Gewebe / Objekt, mit dem ich eine bewusste Interaktion eingehe. Ich kontrolliere diesen Prozess, ich kann beginnen und aufhören, wann es mir beliebt und bin bei der Gestaltung frei: ich kann ein Stick- oder Strickmuster befolgen, muss aber nicht. Insbesondere in der heutigen digitalen Zeit (ja, ich weiss, es klingt so abgedroschen), wenn wir andauernd erreichbar sind oder zumindest so tun als ob wir immer online sein müssten, ist es wichtig, gelegentlich Abstand von allem zu nehmen. Warum? Um unsere Sinne von den weitgehend sinnlosen digitalen Reizen zu schonen, um sie zur Ruhe kommen zu lassen. Um unsere Gehirn- und Nervenzellen zu entspannen, um die Augen- und Nackenmuskulatur nicht unnötig zu strapazieren. Unser Körper und Geist gehören uns, wir dürfen es nicht vergessen. Es klingt banal, ist es aber keineswegs. Das stete Reagieren auf digitale Reize ist nicht dasslebe, wie aus eigenem Willen und bewusst einer Tätigkeit nachzugehen. Natürlich ist die Anstrengung während einer handwerklichen Betätigung nicht gleich Null. Am erholsamsten wäre wohl ein Spaziergang, Yoga oder Meditation. Dennoch hat auch handwerkliche Tätigkeit viele positive Auswirkungen, sei es die Beschäftigung mit Formen, Farben, Materialien, sowie neuen Handgriffen und Techniken. Auch nimmt der Anteil der neuronalen Verbidnungen, die eine Handbewegung steuern, im Gehirn den grössten Teil an (noch grösser als der ganze Rumpf). Das Handwerk ist also nicht zu unterschätzen. Metaphorisch könnte man sagen, das textile Gewebe führt mich zu meinem eigenen Gewebe zurück, hier erlebe ich meine kleine Freiheit: ich kann sein, wie ich will und wann ich will, alles ist möglich: surreale Gestalten, die unmöglichsten Farbkombinationen, meine eigenen experimentellen Techniken und Griffe usw.


Freitag, 17.10.2025
Nach längerem Zögern habe ich das Pinke gestrickte Stück (Titelbild) geöffnet und neu kombiniert: das Muster, die Maschenzahl und Wolle bleiben, jedoch habe ich die Fäden anders angeordnet. Ich stricke nicht mehr mit zwei Fäden zusammen, sondern getrennt (zweifarbig). Oben ein flauschiger Mohairfaden, darunter die feine Wolle. Das Verstricken beider so feiner Garne war zunächst sehr gewöhnungsbedürftig, ich habe es so noch nie gemacht. Doch zum Glück klebt die Mohairwolle ein bisschen, so, dass beide Garne aneinander haften bleiben und die Arbeit rutscht nicht von den Stricknadeln (übrigens weiterhin Nummer 3 also 3mm).
Das zweifarbige Brioche-Muster erlaubt das Wechseln der Farbe oben oder unten, gleichzeitig ode abgestuft, ich habe mich für die zweite Variante entschieden. Pro Tag stricke ich mal mehr, mal weniger. Ich arbeite nur solange, wie ich Lust habe, sobald die Arbeit ermüdet, lege ich sie bewusst zur Seite. Die Farbvielfalt kann schnell zu einer Qual werden, vor allem wenn beide Farben (oben und unten) zugleich gewechselt werden. Vorerst beschränkte ich mich auf meine Mohair-Vorräte und habe keine neuen Farben nachbestellt. Als nächstes folgt ein goldig-gelber Mohairfaden oben.
Sonntag, 28.9.2025
Als ob sich im Winter die Farben zurück in die Erde ziehen würden. Nach dem prachtvollen Aufleuchten im Herbst zeigt sich die Winterlandschaft eher karg bekleidet. Dennoch zieht es mich auch im Winter raus. Kaum ein Jahr, an dem ich nicht regelmässig spazieren, joggen oder winterschwimmen gehen würde. Die körperliche Überwindung härtet nicht nur das Fleisch ab, sondern belebt auch den Geist und bringt frischen Wind in das in dieser Jahreszeit träge werdende Denken.
Ein kurzer Aufenthalt draussen zeigt, dass nichts so ist, wie es scheint: ein bedeckter Himmel kommt mir nach ein paar Runden auf der Laufbahn nicht mehr so trübe, die Stimmung steigt mit dem Puls und nach einer Weile bin ich froh, dass ich aus dem Haus bin. Der winterliche Wald ist ein besonderes Erlebnis, egal ob zum Spazieren oder beim Joggen: mal neblig, mal von kaltem Sonnenlicht durchflutet, stets bietet er eine lebhafte Kulisse voller Düfte und Geräusche. Sind die Blätter weg, erscheinen die Bäume viel majestätischer und mit ein bisschen Glück kann man dazwischen die im Wald lebenden Tiere erblicken. Die Farben sind nicht ganz verblasst, sie sind da, einfach anders angeordnet und in einem dezenteren Farbspektrum. Nicht selten halte ich am Waldweg an und mache ein paar Yoga Übungen, um von der Schönheit zu profitieren. Das Winterschwimmen hat einen noch stärkeren Effekt auf die Sinne: ob alleine, zu zweit oder in einer Gruppe. Nie steigen wir zwei Mal in denselben Fluss, alles verändert sich und - entgegen der geläufigen Meinung - alles wird besser, zumindest nach dem Winterschwimmen. Das nasse Blaugrün erfrischt immer: egal ob das Eintauchen eine Minute oder länger dauert, jedenfalls macht es hinterher heiter und fröhlich. Beim Sport bewegen wir nicht nur den Körper, auch unsere Sinne und Fantasie werden belebt und schöpfen aus dem Reichtum an Eindrücken.
Seit gut einem Jahr gehört auch tägliche Meditation (morgens oder abends) zu meinem Programm. Diese eher feine Art von innerer Arbeit habe zu Beginn meiner Dissertation wieder aufgenommen, um sie zu dokumentieren und ihre Wirkungen zu notieren. Welche genau sind es, lässt sich nicht so eindeutig sagen, zumal ich es nicht isoliert betrachte. In Kombination mit Yoga und Bewegung ist die Wirkung jedoch nicht zu übersehen. Manchmal sind es subtile Veränderungen, die ich wahrnehme, an einem anderen Tag wieder etwas Körperliches. Was genau ist eine Meditation? Vereinfacht gesagt, es ist die Pause zwischen zwei Gedanken. In der Zen Philosophie sagt man gerne, dass man das Nicht-Denken denkt.
Das textile Handwerk wird ebenfalls gerne als meditativ bezeichnet, was jedoch nur bedingt zutrifft. Oft wird "meditativ" mit entspannt oder angenehm verwechselt, um der eigenen Arbeit einen besonderen Ausdruck zu verleihen. Eine Meditation ist in erster Linie auch innere Arbeit, Übung und Fokus, es ist nicht dasselbe, wie wenn wir uns entspannt treiben lassen und es "Ah so schön" finden. Eigentlich trifft es auch auf Handwerk zu: um etwas geniessen zu können, um sich in einer Fadenarbeit zu verlieren, braucht es nicht selten jahrelange Übung (Augen, Muskeln, Handgriffe und laut neusten Studien gar neuronale Verknüpfungen im Gehirn). Erst wenn ich weiss, wie die Maschen zu stricken sind, wenn das Wissen in den Körper übergegangen ist und ich die Bewegungen fast schon beiläufig mache, erst dann kann ich alles "vergessen", mich treiben lassen und einfach so vor sich hin stricken. Dennoch bedarf es auch hier Wachsamkeit und Fokus, damit ich in Gedanken nicht abschweife, sondern bei der Sache bleibe. Nichts ist so, wie es scheint, hinter allem, was auf den ersten Blick einfach aussieht, sind tausende Arbeitsstunden und jahrelange Übung.
Für diesen Winter habe ich mir ein besonderes Projekt vorgenommen: ein grosser Schal im Chevronmuster (Zickzack). Gestrickt im Patentmuster (brioche), als Wolle habe ich pflanzlich gefärbte Bällchen in feister Lace-Qualität zusammen mit flauschigem Mohair kombiniert (pinkes Bild oben). Wie sieht mein meditatives Stricken konkret aus? Ich stricke möglichst täglich ein paar Minuten tägliche (ca. 30 min), langsam mit einem Fokus auf die Arbeit. Es ist vom Vorteil, wenn man das Muster und die Technik kennt, so kann man sich schön in das Stricken vertiefen und den flow geniessen.


Das obige Tuch in einer neuen Variatioan, oben von rechts (mit Mohair vorne), unten von links, mit Wollgarn von oben.
Fortsetzung folgt...
Lust auf Brioche? Ein Strickkurs mit technischen Grundlagen (Termine auf Anfrage ab 2 Personen).
Info & Anmeldung hier: https://www.arbeitandermasche.ch/stricken
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Ein Einstieg in eine Meditation kann sich als schwierig gestalten, in meiner Yoga Klasse am Freitag (8 Uhr) biete ich regelmässig kleine Meditationen an, um die eigene Wahrnehmung zu studieren und verfeinern.
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