Am stillsten Ort der Schweiz
- jb

- 27. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Aug.
Vor Jahren habe ich mal vom St. Johannes (Son Jon) Kloster in Müstair gehört, doch nie bin ich dazu gekommen, hin zu fahren. Das Dorf liegt nämlich im östlichsten Zipfel der Schweiz, da wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Sitzt man am frühen Aben auf dem Klosterfriedhof (es gibt nicht allzu viele romantische Sitzgelegenheiten im Dort), so könnte man meinen, dass eine tiefe Nacht bereits angebrochen ist, so ruhig ist es hier.
Gestern Nachmittag, als ich angekommen bin, war da viel los: Touristengruppen aus dem In- und Ausland, Familien und Paare, alle wollten die einzigartige, karolingische Kirche und Museum besichtigen. Und zu sehen gab es wirklich fast schon Wunder: uralte Freskos aus der Zeit der Neubau der Kiche im Jahre 775. Geradezu durchsichtig leuchtende Gesichter und sanfte Augen betrachten uns, die ungebetenen Besucher, die sich 1250 Jahre später im Inneren der Kirche taumenl, nicht wissend, wo sie zuerst hinsehen sollen. Die original Freskos an den Wänden der Kirche sind äusserst gut erhalten, sie erzählen in Bildform die Geschichten aus dem Neuen Testament. Dies war eine art visuelle Meditation, einzig für die Mönche des Klosters geschaffen, denn die Kirche war lange Zeit nicht öffentlich. Im 12. Jahrhundert sind die Mönche weggezogen und das Kloster wurde von Nonnen übernommen, die sich hier in ihrer Freizeit der Stickerei widmeten. Diese Tradition wurde bis ins 20. Jahrhundert geführt, heute leben nur noch acht Nonnen hier, die aufgrund ihres hohen Alters wahrscheinlich nicht mehr sticken. Leider sind im Kloster selber nur sehr wenige Stickarbeiten zu sehen, viele wurden als Auftragsarbeiten angefertigt und verliessen wohl das Kloster gleich nach ihrer Fertigstellung.
Draussen regnet es in Strömen und so besuche ich noch die im Klostergarten (und Friedhof) gelegene Kapelle, die ebenfalls 775 erbaut wurde. Hier sind die Freskos weniger gut erhalten, hie und da leuchtet noch eine Figur oder ein Motiv im ägyptisch Blau aus den Wänden hervor. Einzig eine Höllenszene überdauerte mehr als tausend Jahre und ist noch heute deutlich zu erkennen: zwei Menschen in riesigen Ketten gefangen, einer davon sogar als König dargestellt. Die Hölle macht schliesslich vor niemandem Halt, so die Botschaft an die damalige (und heutige) Welt. Die Kapelle gefällt mir sehr, sogar bei dem grauen Wetter draussen ist das Licht drinnen weich und als ob leuchtend, wirklich ein ungewöhlich schöner Bau. Im Untergeschoss, das wir leider nicht besuchen können, sind zwei grosse Freskos mit Todesmotiven angebracht, wird uns erzählt. Auf den Fotos sind zwei längliche Boote mit Toten zu erkennen, gesteurt vom Tod mit einer Sense. Die Bilder sind beinahe identisch: im ersten Bild tragen die Toten noch Kleider (und können so nach ihrem Stand und Beruf eingeordnet werden), im zweiten Bild führt der Tod nur noch Skelette auf dem Boot, die allersamt gleich aussehen. Am Ende sind wir alle gleich. Da fällt mir ein, dass ich mein gestricktes Halstuch dabei habe, dieses trägt auch einen Totenkopf als Motiv. Vielleicht finde ich später noch einen passenden Ort, wo ich es fotografieren könnte? Und tatsächlich, der Klostergarten, mit vielen wunderschönen Blumen und dem bröckelnden Klostergebäude im HIntergrund bilden die perfekte Kulisse für mein kleines Kunstwerk. Alle Fenster sind mit einer kleinen aber feinen Stickarbeit abgedeckt, das Nelkenmotiv scheint sehr beliebt zu sein. Hinter einer Stickrei lugen kleine, stechende Augen einer Nonne hervor, was würde sie wohl zu meinem Totenkopf Motiv sagen?

Am zweiten Tag meines Aufenthalts mache ich mir einen Ausflug in die umliegende Berglandschaft, die sanften aber kräftig gefärbten Blümchen erheitern das Gemüt auf eine besondere Art. Der süsse, nach warmen Lärchenholz duftender Wald ergänzt die Kulisse und lässt die Seele frohlocken: hoch über den Wolken fühlt man sich wie ein Vögelchen.
Am Abend zieht es mich wieder auf den Friedhof, insgeheim bin ich froh, dass im Dorf nix los ist, denn endlich kann ich mich hinsetzen und die wunderschöne Kapelle abzeichnen. Das Kalkweiss ist schlicht, der Bau mündet in einer Kleeblattform im vorderen Teil. An den länglichen Blindfenstern, die typisch karolingisch sind, bricht sich das Abendlicht und ihre Ränder bekommen dadurch eine warme Umrahmung. Der weisse Kalk reflektiert das umliegende Licht, das sich hier im Nu ändert, die Kapelle scheint dadurch leicht über der grünen Wiese zu schweben. Das warme Sonnenlicht auf der vor mir liegenden Bergkette ist ein einziges Spektakel, gleich einem Stummfilm gleiten die Schatten über dem sattgrünen Wald. Nur das sanfte Gezwitscher der gefiederten Friedhof-Gäste durchbricht gelegentlich die endlose Stille.




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