Manchen Textilien sieht man es geradezu an, dass sie eine Reise über Zeit und Raum hinter sich haben. So ist es auch bei diesem Kaschmirtuch, das ich von der Bildhauerin Heidy Wirz bekommen habe. Gekauft hat sie es in Kaschmir (Himalaya) und wie der Name schon sagt, ist es aus Kaschmirwolle gewoben. Das Tuch hat eine quadratische Form (Masse 100 x 100 cm ) und in der Mitte verläuft ein weiteres Quadrat mit weisser Stickerei, das Blumenmotive enthält. Die natürliche Farbe der Kaschmirfasern war zwar wunderschön, doch zugleich hat mich die weisse Fläche auch dazu verführt, sie zu färben. Hierzu habe ich eine einfache Komposition aus Eucylyptus- und Rosenblättern gewählt. Die pflanzlichen Abdrücke fügen sich schön in das weiche Ziegenhaar, manche Eucalyptusblätter ergaben wohlgeformte Herzchen.
Wie bestickt man nun solch ein Juwel? Es passierte wie von selbst, dass ich die pflanzlichen Abdrücke in simpler Sashiko-Manier (Laufstich) zu besticken begann, wobei ich die Enden der Fäden draussen hängen liess, um das Geweben zu schonen. Bei der Komposition habe ich mir folgendes überlegt, und zwar: die gewobenen Grundlage stammt von Tieren (in diesem Fall Kaschmirziegen), die hier die Tierwelt repräsentieren. Die pflanzlichen Abdrücke und die Fäden (die allesamt mit Pflanzen gefärbt sind), könnte man als Vertreter der Botanik interpretieren. Die einzelnen Stickmotive hingegen gehen auf Menschen zurück: Einerseits ist es der Text, mit dem ich die Stickerei "überschreibe", anderseits sind es Hand- und Fußabdrücke von mir und meinen Mitmenschen, die auf diese Weise mit dem Gewebe in visuellen Dialog treten und dann natürlich die Stickerei als solche.
Bei den Motiven ist es vor allem der Handabdruck, der mich fasziniert: heute schenken wir diesem wenig Beachtung, doch früher, bevor es die Fotografie gab (um die menschlichen Gesichter festzuhalten), beschriftete man die Hände. Diese gaben je nach Beruf und Stand eine solide Auskunft über ihre Besitzer, Verletzungen und Merkmale konnte man sehr genau festhalten. Auch in prähistorischen Zeiten findet man den menschlichen Handabdruck als eine Art Aufzeichnung oder Ritual, zum Beispiel bei den Höhlenmalereien in der Chauvet-Höhle. Hier sind es sowohl die Positiv- als auch die Negativabdrücke, mit denen eine ganze Wand übersät ist. Die Menschen in unserem Leben kommen und gehen, doch ihr Abdruck (der äussere oder innere), den sie mit anderen Menschen als Gattung verbindet, bleibt. Diese Idee fasziniert mich so sehr, dass ich auch die Hände meiner Freunde auf dem Gewebe festhalten werde. Symbolisch stellen sie Berührungen und Begegnungen in Raum und Zeit dar. Was das Sticken betrifft, so kann man auch einen Positiv- oder Negativabdruck (nur die äusseren Ränder bestickt) machen, sogar die Lebenslinien liessen sich auf dem Gewebe sehr gut beidseitig sticken, wodurch die Hände einen noch persönlicheren Abdruck bekommen.
Die Bilder zeigen das Tuch im Morgenlicht, die Farben schimmern wunderschön in der frostigen Luft.
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