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Der Garten meines Vaters

Dieses Jahr ist alles anders, hören wir von allen Seiten. Doch eigentlich ist jedes Jahr, jede Woche und jeden Tag alles anders. Es ist nicht selbstverständlich, dass die Sonne jeden Tag aufgeht, schreibt Gottlob Frege in seinem Aufsatz „Über Sinn und Bedeutung“. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und hat gerne regelmässige Abläufe, dies zeigt sich auch beim Wahrnehmen der Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und schliesslich Winter. Obschon wir sehr wohl wissen, dass zum Beispiel diesjähriger Frühling ganz bestimmt nicht gleich ist wie der letztjährige, wiegen wir uns gerne in Sicherheit, dass die Natur „ihren festgelegten Weg“ geht und wir glauben zu wissen, was danach kommt - der Sommer nämlich! Dieses Jahr ist der Sommer erwartungsgemäß eingetroffen, doch er war wieder andres. Und bald kommt der Hebst …


Selbstverständlich habe auch ich mich auf die gewohnte Abfolge der Jahreszeiten eingestellt und im Frühling zum ersten Mal meinen Balkon bepflanzt. Am Anfang waren es ein paar Tomatensetzlinge, die mittlerweile zu fast zwei Meter hohen Bäumen gewachsen sind, später kamen eininge Kräutertöpfe hinzu.

Doch das Highlight ist per Post eingetroffen; in einem Briefumschlag von einer Bekannten aus Bern habe ich ein paar (vielleicht um die 50 Stück) japanische Indigosamen (Persicaria tinctoria) geschenkt bekommen. Ich glaube es waren diese Samen, die mein Interesse für die Pflanzen und meine Sympathie (oder soll ich gleich von Liebe sprechen?) wieder weckten. Welch eine wunderbare Kraft steck in einem jeden Samen, das in sich solch eine grüne Wucht trägt? Kaum lugen sich aus der Erde hervor, schon drehen sie ihre zarten Blättchen nach der Sonne. Wie kann es sein, dass ein Stern, der 150 Millionen Kilometer entfernt ist, es vermag, alles Leben - egal ob Pflanze, Tier oder Mensch - auf der Erde mit seinem Licht zu berühren und nähren? Und dann ist noch etwas hier: das langsame, mit blossem Auge nicht wahrnehmbare Wachstum der Pflanzen, das dennoch in unsere Erinnerung und Erfahrung eingeht. Jedes Mal, wenn ich auf meinem Balkon sitze und den Pflanzen beim Wachsen zusehe, denken ich daran. Mein Balkon-Garten ist nicht nur ein Ort des Wachstums, sondern auch der Philosophie, so viel steht fest.



Als Kind habe ich zu unserem Garten eine Art Hassliebe gehegt: einerseits liebte ich all die Ost- und Gemüsesorten, die uns der schenkte, anderseits mochte ich die unschöne weil mühsame Arbeit mit und in der Erde nicht (als Kind musste ich oft aushelfen). Es ist mir so - naja, wie soll ich sagen - archaisch vorgekommen, wenn man wie ein Maulwurf in der Erde buddelt. Hinzu kam noch die strenge Aufsicht meines Vaters, der jede noch so kleine Fahrlässigkeit sofort erkannte und mich zu sorgfältigen Arbeit ermahnte. Natürlich fällt so etwas einem Kind schwer! Und so flüchtete ich wann ich konnte aus dem Garten zu meiner Mutter in die Küche, wo ich lieber beim Kochen und Nähen half. Dennoch blieb viel Wissen an mir hängen, denke ich mir, vor allem, wenn ich sehe, an was alles sich meine Hände „erinnern“, wenn ich mit der Erde und Pflanzen arbeite. Diese Handbewegungen enthalten etwas Magisches, es ist, als ob die Hände ihre eigene Erinnerung hätten. Zugleich enthält die Gartenarbeit beinahe etwas Mythologisches: das, was ich stets von Neuem hervorbringe, existiert erst gerade durch diese zyklische Wiederholung. Gleichzeitig, so scheint es mir, ist es, als ob mich all die Bewegungen, die ich als Kind erlernte, in der Zeit zurück in den Garten meiner Kindheit tragen würden. Mein Körper ist in diese Prozesse nicht minder eingebunden als mein Bewusstsein, es bedarf beider um eine Pflanze richtig in einen Topf zu setzen und pflegen.



Und so kommt es, dass ich, bisweilen viel über meinen Vater und sein Leben nachdenke. Die Arbeit sagt vielleicht nicht alles, aber doch viel über einen Menschen aus. Ich wage zu behaupten, dass der Garten für meinen Vater so etwas wie ein Garten Eden war, in den er zurückkehren konnte und aus dem ihn niemand mehr vertreiben konnte. Als Kind reicher Bauern, die zunächst von den Nazis drangsaliert und später von den Kommunisten enteignet wurden, wusste mein Vater sehr wohl, was es heisst, aus dem eigenen Haus und Garten vertrieben zu werden. Der Garten, den mein Vater für seine Familie hervorbrachte, war ein biodynamischer, in sich geschlossener Kreislauf samt aller möglichen Pflanzen, Bäume, Kompost, Bienen und Tieren. Aufgrund seiner Lebensgeschichte ist er kein einfacher Mensch, mein Vater, vielleicht deshalb hat er sich immer besser mit den Pflanzen und Tieren als mit seinen Mitmenschen verstanden. Erst jetzt, wenn seinen Lebenskräfte schwinden und er nicht mehr so oft in den Garten flüchten kann, scheint es mir, dass er auch mit den Menschen besser auskommt. Wie sonderbar das Leben machmal sein kann! In seiner Erzählung Gewöhnliches Leben [1934] schreibt der tschechische Schriftsteller Karel Čapek, dass die Eltern uns das ganze Leben lang begleiten; sogar wenn sie nicht mehr da sind, gehen sie mit uns auf unserem Weg bis zum Ende. Es ist ein sehr schöner Gedanke, in dem die Überzeitlicheit (ich mag nicht von Ewigkeit) des menschlichen Lebens ausgedrückt wird, nämlich, dass ein Mensch solange lebt, wie wir ihn denken. Übertragen auf die Gartenarbeit würde dies bedeuten, dass jedes Mal, wenn ich die Gartenarbeit verrichte, mein Vater an meiner Seite steht und zusammen mit mir den Pflanzen beim Wachsen zusieht.

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