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Die stickende Hand, die schreibt

Einer jeden Stickarbeit haftet etwas Zeitloses an, höre ich oft. Hat sich der Faden einmal seinen Weg durch das Gewebe gebahnt, bewegt er sich nicht mehr und nicht selten überdauert er sogar die Hände, die ihn geführt. Aber was sagt diese oder jene Stickarbeit aus, wenn der Kontext ihrer Entstehung allmählich in Vegessenheit gerät oder von neuen Ereignissen überschrieben wird? Ähnlich den Spuren im Sand verwischt auch hier die Zeit alle Motive, Inspiration oder Schmerz, die einer Arbeit innewohnen. Dieser Prozess hat auch eine inhaltliche Verschiebung zur Folge; verstehen wir doch etwas so oder anders, insbesondere wenn wir die Beweg- und Hintergründe kennen. Ausgehend von diesen und ähnlichen Überlegungen beschloss ich, die emotionalen Spuren der Handabdrücke, die ich in mein Tuch einsticke zusätzlich zu dokumentieren.


Leider - oder zum Glück - liegt ein gutes Jahr zwischen der ersten Stickerei und meinen ersten Zeilen. Das Schreiben aus der Retrospektive hat eine gewisse Unschärfe in sich, da ich mich nicht mehr genau an alles, was in mir vorgegangen ist, erinnern kann. Und doch leuchten hie und da wie kleine Lämpchen Gedanken und Emotionen auf und plötzlich fühle ich mich in die Zeit versetzt, als ich den ersten Handumriss - und zwar den meiner rechten Hand - zeichnete. Vielleicht ist es zugleich ein Geschenk, dass ich mich nur vage erinnern kann, dass vieles in die Vergangenheit entglitten ist und sich jetzt nur noch als ein Faden im Stoff be-greifen lässt. Zugleich bin ich auch von der akribischen Wiedergabe, die sooft langweilt, befreit und ich muss meine eigene Arbeit interpretieren. Was wollte ich damit eigentlich aussagen, warum habe ich da - genau da - die Farbe gewechselt, und so weiter.

Ich folge meinen eigenen Spuren in diesem zarten Gewebe aus Kaschmirhaar und wunderere mich ob der eigenen Hilflosigkeit, die stellenweise zu mir hinaufchaut. Und je mehr ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen, umso mehr realisiere ich, dass ich damit den ersten, ursprünglichen Gedanken, den ich ja suche, eigentlich überschreibe. Nichts ist wie es war, die Vergangenheit lässt sich nicht einfach so heraufbeschwören, obwohl sie da - blau, rot und was-weiss-ich auf weiss - vor meinen Augen liegt. Das Offensichtliche bleibt un(be)greifbar, meine Suche endet (o Wunder!) in meinen eigenen Gedanken, die sich allmählich im Kreise zu drehen beginnen. Ich komme zum Schluss, dass das Mehr an Wörtern und Sätzen nicht die Gesamtheit dessen, was da vor mir liegt, zu wiedergeben vermag.


Trotz all diesen Rückschlägen ist es letztendlich ein fruchtbarer Prozess; die sprachliche Re-Interpretation der eigenen Fadenspuren führt zu einer vielschichtigen Begegnung mit mir selber und die Übersetzung der Fadenkonturen in geschriebene Worte gleicht einer kleinen Metamorphose, wenn aus einem Ding ein anderes wird. Der Weg dieser Verwandlung führt über meine Hände, die einst gestickt und nun schreiben, zu meinem Bewusstsein hin, das dies alles reflektiert. Es ist, als ob ich einen Weg zurücklaufen würde; bisweilen ertappe ich mich dabei, dass ich die gestickte Arbeit in einem Rückwärtsprozess zu visualisieren versuche. Wo hat der Faden seinen Anfang genommen und weshalb gerade hier und so weiter. Würde ich diesen Handumriss heute anders sticken als damals und wenn ja, warum? Es kommt mir sogar ein bisschen vor, als ob ich eine unvollendete Arbeit vor mir habe, die mich zu weiterer Auseinandersetzung einlädt. Ob ich diese dann wieder dokumentiere lasse ich vorerst mal offen.


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